Hôtel du Nord by Eugène Dabit
Autor:Eugène Dabit
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Schöffling & Co.
veröffentlicht: 2015-01-14T16:00:00+00:00
XXI
Ein Telegramm in der Hand, trat Lecouvreur in das Zimmer, in dem Renée gerade putzte.
– Hier, sagte er, ist für Sie.
Renée stellte den Besen hin.
– Für mich?
– Levesque. Hôtel du Nord, meinte Lecouvreur, der es eilig hatte.
Renée blieb allein mit dem Telegramm zurück: »Ist vielleicht von der Amme«, dachte sie.
Seit zwei Wochen hatte sie nichts mehr von ihrem Kind gehört. Fieberhaft öffnete sie das Telegramm. Die Buchstaben tanzten vor ihren Augen: K…I…N…D. Plötzlich traf sie der Inhalt der Nachricht wie ein Schlag. Halblaut und mit zitternden Lippen las sie zweimal hintereinander: »Kind gestorben«, und brach auf dem Bett zusammen.
Sie vergrub ihr Gesicht im Bettzeug und schluchzte, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Schließlich richtete sie sich stöhnend wie ein Tier auf und ging aus dem Zimmer.
Im Flur lief Mimar ihr über den Weg.
– Ich muss der Chefin Bescheid geben, sagte sie zähneklappernd.
Er sah sie verständnislos an. Sie schwankte und presste sich die Hand auf den Mund, um ihr Schluchzen zu unterdrücken. Auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen, wischte sich die Tränen ab, die ihr den Blick verschleierten und stieg, ans Geländer gekrampft, die Treppe Stufe für Stufe hinunter. Schließlich drückte sie die Tür zum Café mit einem Seufzer der Erlösung auf und schwenkte das Telegramm.
Louise stürzte herbei: »Was ist mit Ihnen?« Sie griff sich das Telegramm. »Oh nein! Emile, der Kleine von Renée ist gestorben!«
Renée war auf eine Sitzbank gesunken. Ihr Haarknoten hatte sich gelöst, eine Strähne fiel ihr auf die Schulter; sie starrte vor sich hin.
Seit dem Tag, als sie Bernards Drängen nachgegeben hatte, war sie ohne eine Nachricht von ihrem Pierre geblieben. Ach, dieser Fehltritt hatte ihr nichts als Unglück eingebracht. Sie faltete die Hände: »Mein Gott, mein Gott … vergib mir.«
Ein Gast, der gerade hereinkam, witzelte: »Renée, Sie hören wohl Stimmen!«
Sie erstarrte, schließlich stand sie auf. Louise ging zu ihr, versuchte sie zu trösten. Aber sie ging ohne ein Wort hinauf in ihr Zimmer, zog sich an und lief zum Bahnhof, wo sie in den nächsten Zug stieg …
Am übernächsten Abend sahen die Lecouvreurs sie zurückkommen. Sie war nicht wiederzuerkennen, antwortete nur stotternd. Sie wollte in ihr Zimmer, wollte allein sein.
Louise zog sie ins Hinterzimmer und konnte ihr ein paar Worte entlocken. Der kleine Pierre war binnen zweier Tage von Koliken dahingerafft worden. Die Nachbarinnen sagten, man hätte ihn nicht rechtzeitig behandelt.
Sie hatte die Wäsche des Kindes dabei, die sie sorgfältig in ihrem Koffer verstaut hatte. Sie breitete das Mützchen, die Bänder und Jäckchen auf ihrem Bett aus; gedankenverloren schaute sie sie an, hob sie an ihr Gesicht und bedeckte sie mit Küssen. Es war noch Leben in diesen kleinen Sachen, ein Geruch, eine zarte Wärme.
Sie blickte auf: Erinnerungen wurden wach. Trimault, der Kleine … Und jetzt, nichts mehr. Um sie herum das erdrückende Zimmer, eine ausweglose Einsamkeit. Sie ließ die Arme hängen, und die Reliquien glitten ihr aus den Händen. Doch sie hatte nicht mehr die Kraft, sie wieder aufzuheben.
Zwei Wochen vergingen. Wenn Louise sich nach ihrem Befinden erkundigte, zuckte Renée traurig mit den Schultern.
– Ich langweile mich, sagte sie.
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